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Coaching
Sie machen den Blick frei

10/2016

Kaum ein Manager, der sich heute nicht beraten lässt. Doch den perfekten Coach erkennt man nicht etwa an seinen Zertifikaten. Sie besitzen vielmehr die Gabe, Klarheit und ein Feld der Veränderung zu schaffen, meint unser Autor Martin Häusler.

Der Vorstandssprecher eines großen deutschen Unternehmens aus der Finanzbranche ging mit dem Trend – und suchte einen Coach. Dabei hatte er den Mut, sich jemandem anzuvertrauen, der als unkonventionell bekannt ist. Ali Wichmann, Gründer und Geschäftsführer des Schar­latan-Theaters, schickt entweder sein Ensemble für Trainings, Workshops und Performances direkt in die Konzerne. Oder er geht selbst mit Führungskräften ins Eins-zu-eins-Sparring. So wie in diesem Fall. In den ersten fünf Sitzungen, so erinnert sich der Hamburger Berater, ging es vor allem um Fragen des Auftritts. Der Klient sehnte sich danach, charismatischer zu werden und das norddeutsch Trockene durch mehr Humor zu ersetzen, den er nämlich immer dann verlor, wenn er seine Firma in der Öffentlichkeit vertreten sollte. Das Coaching brachte erste Erfolge. In den Gesprächen provozierte Wichmann mit dem Mittel der Ironie, um das wahre Wesen seines Gegenübers herauszukitzeln. Der Mann stieg darauf ein, wurde immer lockerer. Durch ständige Wiederholung solcher Situationen sollte er in die Lage versetzt werden, diese Haltung mit in seinen Job zu nehmen.

Doch dann nahm die Beratung eine dramatische Wendung: Die Zahlen des Unternehmens wurden schlechter, und der Branchentrend ließ nicht erwarten, dass sich daran so schnell etwas ändern würde. Wichmann sollte plötzlich der Tröster sein, denn der Manager erging sich geradezu in Selbstmitleid. Alle Bemühungen, ihn da herauszuholen, schlugen fehl. Mancher Coach hätte sich das noch mehrere Wochen angehört, immerhin lässt sich mit Führungskräfteberatung viel Geld verdienen. Doch Wichmann beendete die Beratung: „Kommen Sie doch bitte wieder, wenn es Ihnen und Ihrer Firma besser geht.“

Aus der Aufgabe, unter den aktuellen Umständen immer weiter wachsen zu müssen, lässt sich für viele Führungskräfte kein Sinn mehr erzeugen.
Ali Wichmann

Der Vorstandssprecher war perplex und ging beleidigt. Natürlich hätte er selbst nichts an den stürmischen Zeiten ändern können. Doch er sah offenbar nicht, dass er selbst sein Unternehmen hätte seefest machen können, war nicht bereit, sich selbst als entscheidenden Faktor der Krise wahrzunehmen. „Das Schwierigste für Manager ist es zu realisieren, dass sie kreativ werden und aus sich heraus etwas verändern müssen“, sagt Wichmann. „In den oberen Etagen ist man ja eher daran gewöhnt, Dinge nur noch wegzudelegieren und andere aktiv werden zu lassen.“

Extremes Wachstum der Coachingbranche

Die Hauptursache für die starke Zunahme professioneller Coachings liegt für Ali Wichmann in der Hilflosigkeit mancher Führungskräfte im Umgang mit dem Tempo und der Wachstumsdoktrin der Märkte. Diese Beobachtung bestätigt auch eine Studie, die im vergangenen Jahr für Auf­sehen sorgte. Der US-amerikanische Management-Berater Korn Ferry fragte weltweit 7500 Top-Manager, was denn aktuell die wichtigste Anforderung sei, die sie an ihre Führungskräfte stellen. Ganz oben landete die Fähigkeit, Wandel und Veränderung zu gestalten. Das war zu erwarten, überraschend hingegen: Nur 17 Prozent waren überzeugt, dass die eigenen Führungskräfte auch die Kompetenzen dafür besitzen.

„Als Vorstandschef oder Geschäftsführer wäre ich sehr beunruhigt, wenn ich das Gefühl hätte, dass meine Führungskräfte nur teilweise die komplexen Change-Prozesse gestalten können“, sagt Hubertus Graf Douglas, Geschäftsführer der deutschen Dependance von Korn Ferry. „Denn kaum ist das eine Veränderungsprojekt abgeschlossen, beginnt schon das nächste. So schnell verändern sich heute die Bedingungen an den Märkten. Wer da nicht mithalten kann, dem droht unmittelbar der Absturz. Im Zweifel bis nach ganz unten.“

Was also tut ein Unternehmen in solch einer Situation? Es stellt seinem geforderten und zuweilen überforderten Personal Hilfe zur Seite. Das extreme Wachstum der Coachingbranche in den vergangenen Jahren – in Deutschland wirken mittlerweile zwischen 10 000 und 12 000 professionelle Coaches – ist eine Reaktion auf den dringenden Bedarf der Firmen. Deren Mitarbeiter fühlen sich durch die zunehmende Dynamik der Märkte und den nicht abschwellenden Transformationsdruck getrieben. „Aus der Aufgabe, unter den aktuellen Umständen immer weiter wachsen zu müssen, lässt sich für viele kein Sinn mehr erzeugen«, beschreibt Ali Wichmann das Dilemma vieler Führungskräfte. »Sie haben aus den Augen verloren, wofür sie eigentlich leben und arbeiten.“

Laut Coaching-Report ist eine der wichtigsten Ursachen für die Beratung ein Mangel an Feedback zum eigenen Verhalten.
Stephan Schmitz

Zur Sinnfrage kommt erschwerend hinzu, dass die Führungsrollen vielschichtiger und komplizierter geworden sind. Das bestätigt auch Matthias Metzger, Leiter Talent Management und Organisationsentwicklung beim Technologieunternehmen Continental. Pro Jahr veranlassen die Hannoveraner konzernweit mehr als 800 Führungskräftecoachings. Top-Manager müssten heute in mehrfacher Hinsicht Top-Leistungen bringen, erläutert Metzger. „Es genügt heute nicht mehr, fachlich qualifiziert zu sein. Wir erwarten von Führungskräften zudem Mut, Agilität und die Fähigkeit, emotional intelligent zu handeln, zu inspirieren und wirkungsvoll zu kommunizieren. Um dauerhaft erfolgreich zu sein, müssen sie auf die eigene Gesundheit und die ihrer Mitarbeiter achten. Bei diesem anspruchsvollen Programm kann ein Coaching sehr hilfreich sein. Der Gecoachte entwickelt mit Unterstützung des Coaches die Lösung für seine Herausforderung selbst und ist damit von Anfang an Teil von ihr. Coaching wird damit zu einem Herzstück moderner Führungskultur.“

Woher kommt der Megatrend?

Die Gründe für Coachings sind vielschichtig. Leistungs- und Führungsprobleme können im Vordergrund stehen oder auch die Karriereplanung oder die Unterstützung bei der Übernahme neuer Aufgaben. Die Verfasser des jähr­lichen Coaching-Reports kommen in ihren Umfragen zu dem Ergebnis, dass „die wohl wichtigste Ursache“ für ein Coaching der Mangel an Mitarbeiter-Feedback zum eigenen Verhalten sei. Dies führe zu einem „unrealistischen Selbstbild und beruflichen Orientierungsschwierigkeiten“ und in der Folge „zu vielen darauf aufbauenden Problemen wie Karrierestillstand, Motivationsdefizit und Burn-out“.

Diese Zusammenhänge sind vielen Klienten nicht bewusst. Entsprechend geben sie falsche Gründe für ein Coaching an – bis ein Profi für Klarheit sorgt. Ein guter Coach ist jedoch nicht mehr allein ein Feuerwehrmann, der kommt, wenn’s brennt. Galt eine Sitzung früher ausschließlich als letzte Maßnahme für Problemfälle, ist es heute eine Auszeichnung, von einem Coach konsultiert und krisenfest gemacht zu werden. Gleichzeitig ist es eine willkommene Möglichkeit, seine Kompetenzen quasi gratis weiter auszubauen. Dazu passen die Erkenntnisse von Prof. Michael Stephan von der Universität Marburg, der mit seinem Team den Coachingmarkt seit rund zehn Jahren untersucht.

Ein direkter Effekt auf ökonomische Erfolgsgrößen wie Gewinn oder Umsatz ist aufgrund der Vielfalt der Einflussfaktoren nicht messbar.
Prof. Michael Stephan

Er sieht den Megatrend nicht allein in den wirtschaft­lichen Umständen begründet. „Man hört ja immer wieder, dass es der starke Veränderungsdruck ist, der Coachings nötig macht“, sagt er. „Das stimmt zwar, die Firmen wissen, dass sie dadurch in Zeiten größerer Dynamik eine gewisse Robustheit erzielen können. Aber es gibt noch einen zweiten, nicht zu unterschätzenden Grund: Unternehmen sind heute gezwungen, Coachings, Trainings und Workshops anzubieten, um ihre Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Gerade in Branchen mit Fachkräftemangel herrscht ein großer Kampf um Talente. Und die schauen zunehmend auf diese weichen Faktoren.“

Auch deshalb sind Unternehmen dazu übergegangen, Coachings fest in ihren Führungskräfteprogrammen zu verankern und sich Pools mit externen Beratern anzulegen. Welche Maßnahme, welche Person Erfolg verspricht, ist vorab jedoch schwer einzuschätzen. Denn Coach kann sich jeder nennen. Selbst Zertifikate der vielen Coachingverbände in Deutschland bürgen nicht automatisch für Qualität. „Jeder Euro, der in Coachings investiert wird, führt zu zwei Euro mehr Gewinn“ – solche Behauptungen seien schlichtweg unseriös“, rückt Prof. Michael Stephan manche Werbeslogans zurecht. „Coaching hat Effekte, aber vor allem auf der persönlichen und organisatorischen Ebene. Ein direkter Effekt auf ökonomische Erfolgsgrößen wie Gewinn oder Umsatz ist aufgrund der Vielfalt der Einflussfaktoren nicht messbar.“

Wir sind alle in der Situation, auf Sicht fliegen zu müssen. Wir leben in der Unplanbarkeit, kein Stein scheint auf dem anderen zu bleiben, nichts ist mehr sicher.

Ziel des Coachings: Selbstermächtigung des Managers

In erster Linie kommt es – darüber sind sich alle einig – auf die Persönlichkeit des Coaches an, auf sein Charisma, seine Menschenkenntnis und seine Lebensweisheit. Einer der wenigen, denen diese Eigenschaften nachgesagt werden, ist Martin Maria Blau. Der ehemalige Schauspieler, Theaterregisseur und Dozent ist seit 20 Jahren als Coach tätig. Führungskräfte von Dax-Unternehmen betreut er genauso wie Medientycoone und hilfsbedürftige Politiker. Blau begibt sich entweder in die Bürotürme seiner Auftraggeber oder bittet sie in sein Loft in der Hamburger Innenstadt, wo es viele von ihnen leichter haben, sich jenseits der üblichen Umgebung zu öffnen. „Wir sind alle in der Situation, auf Sicht fliegen zu müssen. Wir leben in der Unplanbarkeit, kein Stein scheint auf dem anderen zu bleiben, nichts ist mehr sicher“, beschreibt er die Grundsituation, die ihn mit vielen seiner Klienten eint. Der Unterschied ist: „Es braucht Profis, die sich in diesem Zwischenraum wohl und fest beheimatet fühlen.“

Im Idealfall lernt der Manager in Blaus Gegenwart zu formulieren, was er in dieser kritischen Hochdruckphase als Person braucht, was ihn erfüllt und wieder wirkungsmächtig werden lässt. „Unsere Lernlibido wird durch scheinbare Realitätsanforderungen verschüttet. Ein Coach, wenn er gut ist, stellt eine Situation her, die eine Person in ein Stärkefeld, in ein Gestaltungsfeld hineinzieht. Denn um uns vital und präsent zu fühlen, brauchen wir das Gefühl, gestalten zu können. Ich bin letztlich ein Medium, dieses Feld zu generieren, damit sich eine Person auf den Weg macht. Mir geht es darum, Menschen wieder in den Forschungsmodus zu versetzen, sie herauszubringen aus der Angst, hineinzubringen in Fülle und Freude. Dafür ist es immer notwendig, die eigene Rolle zu klären und sie auf ihre Authentizität hin zu überprüfen. Rutscht der Manager in eine Unterdeckung dieser Rolle, dann nehmen sowohl die Rolle als auch die Person Schaden.“

Jeder kann des anderen Coach sein!

Am Ende eines jeden Coachings landet Martin Maria Blau daher mit ziemlicher Sicherheit bei der Essenz, aus der heraus jeder arbeitende Mensch sich einmal für seinen Job oder im besten Fall für seine Berufung entschieden hat. „Wofür sind Sie einmal angetreten?“ Diese unverblümte Frage trifft viele Manager wie ein Donnerschlag. Hat die Antwort nichts mehr mit dem Status quo zu tun, sollte eine Veränderung eingeleitet werden. Diese „Ansteckung zur ­Ermutigung“, für die ein Coach im Idealfall sorgt, gehe, so Blau, weit über Arbeitsrollen hinaus und gelte quasi für jedermann. „Jeder kann des anderen Coach sein!“

Solch eine unverhoffte Veränderung kann magisch erscheinen und dem Coach eine Menge Dankbarkeit zufließen lassen. Doch nichts wäre aus Managersicht unpassender, als der Verlockung zu erliegen, sich den Erlöser als eine Art „Personal Guru“ zu halten, den man nur herzitieren kann, wenn es mal wieder eng wird.

Das Ziel ist die Selbstermächtigung des Managers und die Auflösung des Coaches. Davon kann auch Ali Wichmann eine Geschichte erzählen. Von einem Geschäftsführer, der erklärtermaßen seinen Jähzorn in den Griff bekommen wollte. Nach einigen vergeblichen Anstrengungen langte der Coach in die Trickkiste und sagte: „Okay, wir machen jetzt Folgendes: Immer wenn Sie das Gefühl haben, einen Ihrer Wutanfälle zu bekommen, rufen Sie mich vorher an.“ Nach wochenlanger Funkstille war es Ali Wichmann, der sich meldete. „Sie haben mich ja gar nicht angerufen“, sagte er verwundert. „Ja“, entgegnete der ehemalige Klient, „weil Sie mir geholfen haben.“ Dem Chef war es schlicht unangenehm vorgekommen, wie ein kleiner Schuljunge seinen Lehrer zu informieren. Dann doch lieber die Untugend abstellen und ein anderer werden.