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Brillen-Trends
Mit Blick fürs Detail

04/2017

Brillen müssen nicht länger nur funktional sein. Immer mehr Deutsche schätzen sie als Accessoires. Manufakturen experimentieren mit neuen Materialien, Formen und Designs – mit spannenden Resultaten.

Manchmal ist es erst der zweite Blick, der das Besondere offenbart. So wie an diesem regnerisch-grauen Spätnachmittag in Berlin-Mitte, nicht weit entfernt vom Alexanderplatz. In einer ruhigen Seitenstraße liegt unscheinbar eine braune, graffitibespickte Häuserfassade mit einem Schaufenster. Warmes gelbes Licht spiegelt sich im feuchten Trottoir. Wer die schmale Holzeingangstür öffnet, betritt einen Raum mit vielleicht 20 gefliesten Quadratmetern, für den das Wort „Flagshipstore“ ein paar Nummern zu hoch gegriffen scheint.

ic!berlin Brillenproduktion bei ic!berlin © ic!berlin Dünner Edelstahl bildet die Basis für die Brillen des Herstellers ic!berlin. Per Laser werden die Gestelle in einem Stück geschnitten und weiterverarbeitet.

Doch das Besondere des Raums erschließt sich erst durch sein Innenleben. Auf Drahtseilen drapiert oder in alten Flugzeug-Trolleys verstaut, sind Dutzende von Brillengestellen ausgestellt wie Objekte. Anfassen erlaubt. Staunen auch. Denn sämtliche Fassungen des Herstellers ic! berlin kommen ohne Schrauben aus. Alle sind auf der Basis von 0,5 Millimeter dünnem, ultraleichtem Federstahl gefertigt – per Hand, ausnahmslos in der Hauptstadt.

Der neueste Schrei: eine Kollektion von flexiblen Sonnenbrillen ab 349 Euro, bei denen das Gestell mit einem heißen, verflüssigten Kunstsoff namens TPE-U umspritzt wird. Erst heute, erzählt die Fachverkäuferin im Laden, habe ein Kunde sie aufgesucht, über dessen Brille ein Auto gerollt war. Sie brauchte das Gestell dann nur ein wenig geradebiegen. Schon war es wieder einsatzbereit.

Brillen – längst sind sie viel mehr als Lesehilfen. Und das Image des einst als „Nasenfahrrad“ verspotteten Alltagsutensils ist heute hochgradig mit Lifestyle-Flair aufgeladen. Die Brille ist zum Accessoire geworden, zu einem typ- und stilprägenden Gern-greif-Gegenstand. Laut einer Umfrage des Online-Händlers Edel-Optics vom Januar 2017 sind 77 Prozent der befragten Modeexperten und Designer der Meinung, die Brille werde ihren derzeitig hohen Status in der Mode beibehalten oder sogar noch wichtiger werden.

Rolf Spectacles Brillenauslage bei Rolf © Rolf Spectacles Die österreichische Manufaktur Rolf Spectacles benutzt für ihre handgefertigten Brillen Stein, Holz und Horn. S sollen natürliche Oberflächen im Vintage-Look hergestellt werden.

Für manche Träger sind sie viel mehr, der Ausdruck eines Lebensgefühls. „Unabhängig von neuen Formen und Farben lässt sich auch bei Brillen ein Trend zur Nachhaltigkeit feststellen“,sagt die Branchenkennerin Kerstin Kruschinskivon der unabhängigen deutschen Initiative „Kuratorium Gutes Sehen“: „Es gibt mittlerweile Brillengestelle aus Bambus, aus recyceltem Papier oder Metall – und natürlich aus Holz.“

Das Tiroler Familienunternehmen Rolf Spectacles etwa ist am Markt sehr erfolgreich mit edlen, sehr leichten Fassungen in Kombinationen aus Holz, Stein oder Horn. Auch diese außergewöhnlichen Modelle kommen ohne Schrauben aus.

Bemerkenswert ist, wie viel Innovationskraft am Markt von Deutschland ausgeht. ic! berlin etwa ist nur ein Beispiel für die gar nicht allzu kühne These, „dass Berlin längst eine weltweit impulsgebende Modestadt ist. Nur eben nicht auf dem textilen Feld, sondern auf dem der Optimetrie“, wie die Süddeutsche Zeitung der Hauptstadt neidlos attestierte.

Mykita Brillenproduktion bei Mykita © DAVIDS/Darmer Frisch gebügelt: Technik, die optisch überzeugt – das ist der Anspruch des Labels Mykita. Seine Brillen bestehen aus Bügeln, die gesteckt, nicht verschraubt werden.

Ein anderes Beispiel ist der Konkurrent Mykita mit rund 300 Mitarbeitern. Jeden seiner federleichten Rahmen lässt das Unternehmen in einem denkmalgeschützten Gewerbehaus im Stadtteil Kreuzberg fertigen. In circa 80 Arbeitsschritten entstehen aus den aus Edelstahl gestanzten Grundformen Brillen, mal im avantgardistischen Stil, mal mit Retro-Design. Stolz sind sie bei Mykita auf ein Verfahren, bei dem aus einem Mylon genannten Material im 3-D- Druckverfahren passgenaue Formen entstehen.

Das Unternehmen versteht sich als moderne Manufaktur. Wobei angesichts von weltweit 14 Stores und einem in der Branche geschätzten Jahresumsatz von 30 Millionen Euro die Frage erlaubt ist, ob dieser Begriff in dem Fall noch scharf ist. „Marken wie Mykita und ic! berlin haben klein angefangen, gewissermaßen über das pure Design. Angesichts ihrer heutigen Größe sind sie inzwischen aber auch mehr oder weniger im Mainstream angekommen“, sagt Dagmar Schwall vom Optik-Fachmagazin EYEbizz.

Wer lieber einen noch ausgeprägteren Hang zu Individualität zur Schau tragen möchte, der findet in Deutschland aber auch immer mehr kleine Hersteller, die sich von der neuen Liebe zur Brille inspiriert fühlen. Mini-Manufakturen etwa, wo ein Geigenbauer oder Schreiner quasi nebenher Brillengestelle als Unikate aus Holz fertigt. Oder wo aus recycelten Vinyl-Schallplatten Designermodelle entstehen. Man muss nur seinen Blick dafür schärfen.

Hier finden Sie weitere Adressen für handgefertigte Brillengestelle: