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Meditation
Gehört Achtsamkeit in die Berufswelt?

11/2019

Achtsamkeit liegt im Trend, Unternehmen nutzen sie zur Effizienzsteigerung ihrer Mitarbeiter. Ist das moralisch vertretbar? Der Gründervater der Lehre, Thich Nhat Hanh, bezieht dazu eine überraschend neutrale Position.

In den Nullerjahren gab es hierzulande die Befürchtung, dass Unternehmen Glaubwürdigkeit einbüßen könnten, sollte bekannt werden, dass sich die Führungsriege zum Meditieren trifft. Im Silicon Valley setzten sich Technologieunternehmen zu dieser Zeit schon mit Achtsamkeit auseinander, Google startete bereits 2007 die Workshop-Reihe „Search Inside Yourself“. Heute ist die Methode fester Bestandteil des betrieblichen Gesundheitsmanagements: von Meditationsräumen bei großen Konzernen wie SAP und BASF, über Seminare wie „Mindful Leadership – Achtsam führen lernen“ bis zu gemeinsamen Atemübungen vor Meetings beim mittelständischen Betrieb.

Wer achtsam lebt, nimmt den Moment unvoreingenommen und mit voller Aufmerksamkeit wahr. Er konzentriert sich auf die Gegenwart, lässt sich nicht ablenken. Mit täglichen Anforderungen kann er dadurch entspannter umgehen, in Stresssituationen adäquater reagieren und selbstbewusster handeln.

Zahlreiche Studien belegen auch eine gesundheitliche Wirkung: Schmerzen werden als weniger quälend empfunden, Angstpatienten werden ruhiger, die psychische Gesundheit stabiler. Krankenkassen bezuschussen Achtsamkeitskurse zur Prävention. Die Methode verspricht gelassene und gesunde Mitarbeiter, die – ein im Jobkontext nicht unwichtiger Nebenaspekt – produktiver sind.

Ethische Fragen

Kritik daran kommt von Arbeitnehmerverbänden und Wissenschaftlern. Manche sehen in Achtsamkeitstrainings eine perfide Möglichkeit, wie auf nötige strukturelle Veränderungen der Arbeitswelt verzichtet werden kann. Stattdessen soll die individuelle Belastbarkeit gesteigert werden, damit das straffe Pensum nicht zum Burn-out führt. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa erklärte im Interview mit dem Deutschlandfunk: „Die Frage nach dem gelingenden Weltverhältnis wird ausschließlich als Persönlichkeitseigenschaft verstanden.“

Als einprägsames Beispiel nennt er Führungskräfte, die über Skrupel bei der Entlassung von Menschen klagen und seit dem Praktizieren von Achtsamkeit damit besser umgehen könnten. Die ethische Komponente, die im religiösen Ursprung der Achtsamkeit durch das Studium buddhistischer Schriften in die Lehre einfloss, fehlt bisher beim Wochenendseminar über achtsame Führung.

Wegbereiter für die Achtsamkeit

Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh gilt als einer der Väter des Konzepts in westlichen Ländern. Der mittlerweile 93-Jährige proklamierte seit den 1960er Jahren den „Engagierten Buddhismus“, der praktizierte Religion mit aktivem Einsatz gegen gesellschaftliches Unrecht vereint. So rief er während des Vietnamkrieges die Buddhisten in seinem Land dazu auf, „den Meditationsraum zu verlassen und zu helfen, ohne die Meditation zu verlassen.“

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Aufgrund seiner Friedensbemühungen musste er ins Exil fliehen. In den 1980er Jahren gründete er die buddhistische Gemeinschaft Plum Village im Süden Frankreichs, etwa eine Stunde östlich von Bordeaux. Das Dorf ist heute ein Verbund aus vier Klöstern, in denen etwa 200 Mönche und Nonnen leben und Besucher nach dem Vorbild von Thich Nhat Hanh Achtsamkeit praktizieren (siehe Infobox). Er selbst lebt mittlerweile wieder in Vietnam.

Mit Achtsamkeit in eine bessere Welt

Nicht nur in Plum Village werden seine Lehren vom Leben im momentanen Augenblick verbreitet. Thich Nhat Hanh hat allein in den USA über zwei Millionen Bücher verkauft. Immer wieder gastierte er bei den weltweit einflussreichsten Technologiekonzernen. Dort ermahnte er seine prominenten Zuhörer, ihre globale Einflusskraft für eine bessere Welt zu nutzen, nicht für höhere Gewinne.

Ingenieuren bei Google riet er, Geräte nach dem Aspekt zu entwickeln, ob sie die Nutzer dabei unterstützen können, den Weg zu sich selbst, zu Familie und Natur wiederzufinden. Wer seinem Rat folge, werde sich gut fühlen, weil er etwas Wertvolles für andere getan hat.

Achtsam, aber kritisch

Für Thich Nhat Hanh ist nicht ausschlaggebend, ob jemand Achtsamkeit praktiziert, weil er nach mehr Entspannung oder mehr Effizienz strebt: „Achtsamkeit verändert die gesamte Perspektive auf das Leben und öffnet Herzen, um Mitgefühl für andere zu entwickeln. Der innere Friede und die Freude, die sich einstellen, beeinflusst den Menschen“, erklärte er dem britischen Guardian. Wer Achtsamkeit nur ausübe, etwa um sein Geld zu vermehren, der werde nie zu ihrem wahren Kern vorstoßen.

Den Einwand, dass große Unternehmen buddhistische Praktiken zweckentfremden, um sie für ihr Profitstreben zu nutzen, kann er so nur teilweise entkräften. Es gibt Zweifel, ob Berufstätige durch Achtsamkeitstrainings zu jener inneren Einkehr finden, die Mönche sich durch jahrelange asketische Lebensweise, tägliches Meditieren und Auseinandersetzen mit religiösen Schriften erarbeiten. Um den Anforderungen in Arbeit und Privatleben besser zu begegnen, kann es helfen, sich durch Übungen selbst zu stärken. Es kann auch bei der Beantwortung der Frage helfen, ob das eigene Pensum generell zu hoch ist und daraus ein Stressgefühl resultiert.

Plum Village
Wer sich auf die Spuren des buddhistischen Ursprungs der Achtsamkeit begeben will, kann dies nicht nur in Südfrankreich tun. Achtsamkeit in der Plum-Village-Tradition wird auch bei Tourneen von Mönchen des Klosterdorfes gelehrt oder in neun Zentren weltweit. Eines davon befindet sich mit dem European Institute of Applied Buddhism in Waldbröl, eine Stunde von Köln entfernt. Die Übungen bei einem Aufenthalt, der mindestens eine Woche dauert, reichen von Gehmeditationen über Essmeditationen bis zu Atemübungen und Teezeremonien.