© Gutenberg-Universität Mainz, Peter Pulkowski

Resilienz
Stärke zeigen in Krisenzeiten

08/2022

Inmitten von Krisen entscheidet Resilienz darüber, ob Menschen diese Phasen unbeschadet überstehen oder krank werden. Oliver Tüscher (50) ist Professor für klinische Resilienzforschung an der Universitätsmedizin Mainz. Dort geht er der Frage nach, welche Mechanismen Menschen davor schützen, an Stress zu erkranken.

WAGEN EINS: Herr Tüscher, unsere Gesellschaft ist seit Jahren im Krisenmodus. Auf die Corona-Pandemie folgte der russische Überfall auf die Ukraine, die höchste Inflation seit Jahrzehnten und die Aussicht auf ungeheizte Wohnungen und stillgelegte Industriebetriebe im kommenden Winter. Was hat das mit Resilienz zu tun?

Tüscher: Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Krisen. Relativ konstant ist dabei diese Formel: Zwei Drittel trotzen Krisen und Widrigkeiten, sie sind damit resilient. Aber ein Drittel schafft das nicht, diese Menschen können sich gegen Ereignisse wie etwa den Verlust geliebter Menschen, Krisen wie Corona oder auch den Alltagsstress nicht wehren und entwickeln zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen.

WAGEN EINS: Dann stimmt also die populäre Definition, Resilienz sei das Immunsystem der Psyche?

Tüscher: In gewisser Weise ja. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, die psychische Gesundheit auch gegen Widrigkeiten aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.

WAGEN EINS: Aus gegebenem Anlass hat das Thema Resilienz gerade Hochkonjunktur – es ist aber nicht neu, oder?

Tüscher: Die Corona-Pandemie verursacht seit über zwei Jahren eine komplexe Mischung aus Mikro- und Makrostressoren. Dazu hat das Mainzer Leibniz Institut für Resilienzforschung, das ich seit 2020 leite, zehn Empfehlungen entwickelt, wie Menschen in dieser Situation Stärke aufbauen können. Inzwischen haben wir es mit mehreren Krisen gleichzeitig zu tun. Tatsächlich beschäftigt sich die Wissenschaft aber schon seit den 1950er-Jahren mit dem Thema. Die US-Psychologin Emmy Werner hat auf Hawaii eine große Geburtskohorte über lange Zeit untersucht. Sie konnte nachweisen, dass manche Kinder, die mit vielen Risikofaktoren aufwachsen, aus sich heraus Resilienz entwickeln.

WAGEN EINS: Welche Erkenntnisse konnte man daraus gewinnen?

Tüscher: Wir haben erkannt, dass Resilienz das Normale ist, also quasi die Standardeinstellung, über die etwa zwei Drittel aller Menschen verfügen. Psychische Resilienz hat zwei Ebenen: eine psychologische und eine neurobiologische. In den letzten Jahrzehnten haben wir immer mehr Methoden entwickelt, um dem Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen, also die Neurobiologie zu verstehen. Hier haben wir große Fortschritte gemacht, etwa durch die funktionale Magnetresonanztomographie. Dank dieser modernen Verfahren können wir sehen, in welchen Hirnregionen sich welche psychischen Vorgänge abspielen.

An der Grenze: Manchmal hilft eine Neubewertung der Situation gegen eine Überlastung
© Getty Images

WAGEN EINS: Gibt es Lebensphasen, in denen wir besonders anfällig dafür sind, dass uns die Stabilität fehlt oder abhandenkommt?

Tüscher: Wir wissen, dass im jungen Alter, etwa von der Pubertät bis ins junge Erwachsenenalter, viele psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen ihren Anfang nehmen. Das liegt unter anderem daran, dass die jungen Menschen in diesem Alter den Schutzraum der Familie verlassen und neuen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind. In einem Projekt untersuchen wir seit vier Jahren eine Gruppe junger gesunder Probanden auf mögliche Veränderungen in der psychischen Gesundheit. Dabei setzen wir Methoden der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Verhaltensforschung, der Molekularbiologie und der Hirnforschung ein. Unser Ziel: Mechanismen zu entdecken, die Menschen davor schützen, an Stress dauerhaft zu erkranken.

WAGEN EINS: Kann man die eigene Resilienz verbessern?

Tüscher: Das ist bis zu einem bestimmten Grad möglich. Wir Menschen haben die Fähigkeit zur positiven Neubewertung. Ein Beispiel: Ein junger Mann hat einen Unfall mit beträchtlichem Schaden verursacht. Das ist zunächst mal eine gewaltige Belastung. Eine positive Neubewertung in dieser Situation hieße: „Ja, ich habe diesen Unfall gebaut, aber niemand wurde dabei verletzt.“ Regelmäßige Bewegung wirkt sich besonders im Alter positiv aus. Viele soziale Kontakte stärken die Resilienz, und Optimismus natürlich auch.

WAGEN EINS: Sie werden gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, Resilienz sei letztlich nur ein anderes Wort für Selbstoptimierung …

Tüscher: Das ist nicht unsere Absicht. Unsere Forschung zielt auf Menschen, die eben nicht aus eigener Kraft zur Widerstandskraft finden, sondern Unterstützung benötigen. Das ist auch eine Form der Prävention. Denn Resilienz hat das Potenzial, uns vor psychischen Erkrankungen zu schützen.

WAGEN EINS: Wird am Leibniz-Institut in Mainz nur geforscht oder auch behandelt?

Tüscher: Wir betreiben eine Resilienz-Ambulanz, und die ist uns sehr wichtig. Damit stellen wir sicher, dass die Erkenntnisse der Forschung dort ankommen, wo sie benötigt werden, und unser Angebot hochaktuell bleibt. Wir beraten Menschen, die noch ohne akute Erkrankungen zu uns kommen, weil sie ihren Umgang mit Stress verbessern wollen.

Tipp für die Stärkung der eigenen Widerstandskräfte finden Sie unter:
https://lir-mainz.de/assets/downloads/10-wichtigste-Empfehlungen_Resilienter-Umgang_Corona_Pandemie.pdf