© CACTUS Creative Studio/Stocksy (M)

Fokus
Storytelling

11/2017

Geschichten sprechen unsere Gefühle an, fesseln, unterhalten, empören uns. Reine Fakten dagegen haben einen schweren Stand.

Alles hat seine Geschichte. Und die muss erzählt werden. Zum Beispiel die von BlackYak, einem Unternehmen aus Südkorea. Nie gehört? Hatte ich auch nicht, bis ein PR-Berater in der Redaktion auftauchte, um Funktionsbekleidung vorzustellen. Noch ein Outdoor-Ausrüster, dachte ich und war in Gedanken schon woanders, bis der Promoter erwähnte, was es mit dem Markennamen auf sich hat. Yak, holte er aus, stehe da nicht zufällig im Namen. Der Unternehmensgründer war einst auf einer Himalaja-Exkursion und geriet am Cho Oyu in einen Schneesturm. Und jetzt raten Sie mal, welches Tier ihm dann erschien und den Weg aus dem Unwetter wies?

Willkommen in der Welt des Storytelling. Diese Welt ist vieltönig und hat eine lange Geschichte. Schon Barden und Gaukler zogen von Dorf zu Dorf, um das Volk zu unterhalten. Die hatten auch tatsächlich was zu erzählen, denn wenn in Dorf A jemandem ein Bein abgesägt wurde, wusste das noch niemand in Dorf B. Im global vernetzten Dorf sind viele Informationen jederzeit verfügbar, und doch besteht offenbar ein großes Bedürfnis, diese Informationen in spannender Form zu erzählen.

Das Narrative als Vermittlungsmethode

Von den Literaten und Drehbuchautoren ist die Macht der Geschichten auf alle Gesellschaftsbereiche übergegangen. Ob in der Politik oder der Bildung, im Marketing oder Journalismus, ob zur Wissensvermittlung oder zur Unterhaltung – überall erhebt das Narrative seinen Hoheitsanspruch als Vermittlungsmethode. Denn, so wissen wir seit Kindheitstagen, eine lebendig erzählte Geschichte gewinnt unsere Aufmerksamkeit viel schneller als eine nüchterne Ansprache.

Bei Google finden sich rund 84 Millionen Einträge zum Storytelling, viele drehen sich um Content-Marketing, eine Verkaufstechnik, bei der Unternehmen versuchen, sich mit interessanten Inhalten über verschiedene Medien mitzuteilen. Im Netz ist die Aufmerksamkeitsspanne bekanntlich besonders gering, dennoch sehen viele Firmen gerade hier großes Potenzial, über (gute) Geschichten mit den Konsumenten ins Gespräch zu kommen. „Offenbar muss das jetzt jeder machen“, schrieb Martin Bredl von der Marketing-Agentur Take Off PR jüngst nach dem Besuch einer Veranstaltung mit dem Titel „Let your Brand be the Story“.

Bei uns gibt es keine Probleme, wir haben nur Herausforderungen!
Martin Bredl, Marketing-Agentur Take Off PR

In seiner Kritik am „Zwang zum Storytelling“ wies er auf den Unterschied zwischen Erzählung und Storytelling hin und erinnerte an die Maximen des amerikanischen Drehbuch-Lehrmeisters Robert McKee. Eine Geschichte brauche einen Konflikt, eine klaffende Lücke zwischen Hoffnung und Realität oder eine Zuwiderhandlung gegenüber der Erwartung. All diese Mittel der Dramatisierung fehlten der Unternehmenskommunikation oftmals, schriebt Bredl: „Bei uns gibt es keine Probleme, wir haben nur Herausforderungen! Genau weil viele im Marketing so erzogen worden sind, werden sie keine guten Storyteller sein.“

Doch es geht auch anders. Denn viele Unternehmen haben erkannt, dass man mit interessanten Inhalten die Menschen besser erreicht als mit platten Werbebotschaften. So erreichte ein Hygieneartikelhersteller viele Millionen Klicks mit einem YouTube-Video, das nicht ein Produkt bewarb, sondern eine berührende Geschichte über die Zielgruppe der Teenager und die Suche nach sich selbst erzählte.

Die Macht der Geschichten: "Storytelling" hat sich längst auch in Unternehmen etabliert.
© Illustration: Patrick Mariathasan

Streben nach Aufmerksamkeit als oberste Maxime

Menschen lieben nun mal Geschichten, weil sie ihnen Orientierung geben und sie mit ihrer Hilfe Dinge besser einordnen können. Das machen sich Unternehmen zunutze, indem sie Themen aufgreifen, die gesellschaftliche Relevanz haben. Mit „Glaub nicht alles, was man dir erzählt“ wandte sich eine Fast-Food-Kette Anfang des Jahres auf Plakaten gegen Sprüche wie „Selbstbefriedigung macht blind“ und griff damit das Thema Fake News auf.

Im Streben nach Aufmerksamkeit kann das Thema weit vom Produkt abschweifen, Hauptsache, es bleibt positiv hängen. Angetrieben wird die Erzählmaschine von der Annahme, dass man den Verbraucher mit zu vielen Informationen oft nur verwirrt. Dass er mit der Entscheidung zwischen vielen ähnlichen Produkten überfordert sei. „Man vergleicht das eine mit dem anderen und ist am Ende nicht viel schlauer“, beschreibt Marktforscher Oliver Tabino ein Grundgefühl vieler Konsumenten, deren Sehnsüchte der Gründer der Q Agentur untersucht. „Viele sind gern bereit, die Geschichte vom guten Unternehmen zu glauben; wenn sie zum Beispiel beim Kauf einer Bio-Limonade denken, dass dahinter die Guten stecken, gibt es ihnen über das Produkt hinaus ein gutes Gefühl.“

Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.
Max Frisch

Doch nicht nur der Konsument ist geneigt, einer guten Erzählung gern zu glauben. Der Hunger nach Storys wird auch von den Medien und der Politik bedient. Da erzählen Minister, Abgeordnete oder Kanzlerkandidaten gern mal von ihrer Kindheit auf dem Lande oder sprechen über frühere Abhängigkeiten. Emotionen, Brüche, Befindlichkeiten – auch die Politik setzt auf die Kraft der Erzählung.

Reine Fakten dagegen haben einen schweren Stand. 2016 erklärte die Gesellschaft für Deutsche Sprache „postfaktisch“ zum Wort des Jahres, und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Physikerin, äußerte Besorgnis darüber, wir lebten in postfaktischen Zeiten und die Menschen verstünden nur noch das, was nicht ihren Verstand anspricht, sondern geradewegs aufs Herz zielt.

Die Geister, die wir riefen: Ist postfaktisch nicht auch eine Spielart des Storytelling, die das Gefühl vor den Verstand setzt? Glauben vor Wissen? Hat uns die Lust auf Unterhaltung, der narrative Stimulus, so süchtig gemacht nach Storys, dass wir ihnen allzu gern folgen, ohne ihren Wahrheitsgehalt kritisch zu prüfen?

Die Gefahr der Filterblasen

So geriet ein Dorf in Aufruhr durch die Falschmeldung, die Erben von Astrid Lindgren machten teure Namensrechte an der „Villa Kunterbunt“ geltend – eine Kita, über deren Zukunft die Lokalpresse wochenlang spekulierte. Klang alles irgendwie unglaublich – wahr.

„Wen kümmern die Fakten, wenn die Geschichte gut ist“, brachte Professor Vincent Hendricks die Entwicklung während der „General Online Research Konferenz“ 2016 auf den Punkt. Der dänische Medienforscher untersucht seit Jahren das Entstehen und die Wirkung von Filterblasen, die sich im Internet bilden. Wer sich nur in bestimmten Netzwerken bewegt, bekommt auch nur Beiträge angezeigt, für die er sich schon mal interessiert hat. Das Problem dabei: Man wird nicht nur einseitig informiert, man glaubt tatsächlich, dass alle anderen auch so denken, und fühlt sich in seiner Ansicht und seiner Deutung von Ereignissen bestätigt.

Die Gefahr dieser Blasen: Wenn sich eine Geschichte gut anhört und meiner eigenen Meinung entgegenkommt, ist es kaum von Belang, ob sie wahr ist oder nicht. Eine andere Sicht der Dinge, beruht sie nun auf Fakten oder nicht, wird dagegen für unwahr gehalten. Man muss nicht bis auf Schopenhauers Philosophie der „Welt als Wille und Vorstellung“ zurückgreifen, um dem Phänomen näher zu kommen. Es reicht schon ein Blick auf die Theorie des Konstruktivismus, die auch vom Medienforscher Hendricks zur Deutung herangezogen wird. Der Konstruktivismus verleugnet zwar nicht die Wirklichkeit an sich, betont aber, dass jeder Mensch aufgrund seiner Geschichte, Entwicklung und Erfahrung seine Sicht der Wirklichkeit hat.

Wogegen nichts einzuwenden wäre, würde diese Art der Wahrnehmung einhergehen mit dem ebenso in uns veranlagten aufklärerischen Impuls zum Prüfen, Hinterfragen, Zweifeln, ja – zur Kritik. Dazu müsste man aber bereit sein, den eigenen Standpunkt, die eigene Weltsicht, einer kritischen Diskussion zu öffnen.

Bevor der Kanon der Welt-Deutungen durch das Internet vielstimmiger geworden ist, kam den Massenmedien die Rolle zu, den Meinungsbildungsprozess zu kanalisieren. Doch sie haben längst ihr Monopol eingebüßt, seitdem in den sozialen Medien alle möglichen Sichtweisen vertreten und geliked werden. Das hat den Kampf um Aufmerksamkeit verschärft, weshalb auch einige klassische Medien zuweilen dazu neigen, die Zuspitzung und die emotionalisierende, am Einzelschicksal aufgehängte „Geschichte“ anderen Darstellungsformen vorzuziehen. Sie stehen vor der Frage, wie sie künftig an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Dabei geht es nicht um die bessere Meinung. Vor jeder Deutung, jeder Ausschmückung und Erzählung sollte eine nüchterne Bestandsaufnahme stehen. Was ist Fakt? Und wie ehrlich lasse ich das Publikum daran teilhaben? Denn nichts ist spannender als die Wahrheit, und die, wusste schon Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, „ist den Menschen zumutbar“.