Eine junge Frau hält einen grünen Aktenordner in der Hand und schaut verzweifelt nach unten. Im Hintergrund ist eine Glaswand mit Post-its
© Adobe Stock

Psychische Belastung
Stress auf der Arbeit: Wann ist es zu viel und wie beugt man vor?

09/2023

Noch nie hatten Arbeitende so viel Stress wie aktuell – das zeigt zum einen eine aktuelle Studie, zum anderen steigen bei Krankenkassen die Krankschreibungen aufgrund von psychischen Belastungen. Gernot Langs, ärztlicher Direktor der auf Burnout spezialisierten Schön Klinik Bad Bramstedt, erklärt im Interview, wie man selbst erkennt, wann man zu viel Stress hat und wie man damit umgeht.

Aufgabenberge, die wachsen und Deadlines, die näher kommen, Überstunden, schlaflose Nächte: Das Stressniveau der Arbeitnehmer:innen ist zum zweiten Mal in Folge auf einem Rekordhoch. 42 Prozent der Deutschen sagen, dass sie viel Stress auf der Arbeit haben. Das ergab der Bericht State of the Global Workplace 2023 des US-amerikanischen Markt- und Meinungsforschungsinstituts Gallup. Für ihn wurden mehr als 120.000 Arbeitnehmer:innen in 145 Ländern befragt. Wenn dieser Stress länger anhält, kann er krank machen.

Manchmal so krank, dass man nicht mehr arbeiten und den Alltag bewältigen kann. Zum Beispiel meldeten sich Mitglieder der Techniker Krankenkasse (TK) im vergangenen Jahr in rund 17,5 Prozent der Fälle aufgrund von psychischen Belastungen krank. Höher ist nur der Anteil von Erkrankungen des Atmungssystems wie Grippe und Erkältung (25,3 Prozent). Und bei der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) sind die gemeldeten Fehlzeiten wegen seelischer Leiden vom ersten Halbjahr 2022 auf das erste Halbjahr 2023 um 85 Prozent gestiegen – so viel wie nie in den letzten Jahren.

Der Arzt Gernot Langs erlebt das in seinem Arbeitsalltag. Er ist seit 2009 Chefarzt und zugleich ärztlicher Direktor der Schön Klinik Bad Bramstedt, einer der größten psychosomatische Kliniken in Deutschland für Akut- und Rehabilitations­behandlung. Mit seinem Team von Ärzt:innen und Psycholog:innen behandelt er Menschen, die beispielsweise unter Depressionen und Angststörungen leiden.

Portraitbild von Dr. Gernot Langs
Gernot Langs ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin an der Schön Klinik Bad Bramstedt
© Schön Klinik

WAGEN EINS: Herr Langs, welche Rolle spielt die Arbeit für das Entstehen von psychischen Krankheiten?

Dr. Gernot Langs: Belastung am Arbeitsplatz ist ein wesentlicher Faktor, und häufig verbunden mit anderen, privaten Problemen. Häufig haben die Betroffenen beispielsweise Beziehungskonflikte oder finanzielle Schwierigkeiten, und dadurch sinkt die Belastbarkeit am Arbeitsplatz. Die Probleme bedingen sich gegenseitig, ein Teufelskreis.

WAGEN EINS: Kann Stress ansteckend sein – zum Beispiel, wenn Kolleg:innen über Stress klagen?

Dr. Gernot Langs: Ein schlechtes Arbeitsklima ist auch Stress. Ansteckend ist er aber nicht, eher übergreifend. Wenn ein Kollege zum Beispiel sagt, „Es ist alles so fürchterlich und viel”, denkt man selbst eher, stimmt, es ist wirklich viel. Aber es gibt natürlich auch Berufe, etwa in der Pflege, in denen die Belastung tatsächlich hoch ist.

WAGEN EINS: Warum steigen ausgerechnet jetzt das Stressniveau und die Krankmeldungen aufgrund von psychischen Leiden?

Dr. Gernot Langs: Ein Grund ist der Arbeitskräftemangel: Der Workload nimmt immer mehr zu, sodass die Belastung steigt. Zweitens scheint es, dass psychische Krankheiten nach der Corona-Pandemie zugenommen haben. Und drittens sind beispielsweise Krankmeldungen aufgrund von Rückenbeschwerden zurückgegangen, und die aufgrund psychischer Erkrankungen gestiegen. Es könnte also sein, dass mehr Menschen zu ihren psychischen Erkrankungen stehen.

WAGEN EINS: Ein Burnout-Syndrom ist im Gegensatz zur Depression keine anerkannte Krankheit. Wie unterscheiden sie sich?

Dr. Gernot Langs: Es gibt Depressionen, die durch ein plötzliches, negatives Lebensereignis ausgelöst werden, wie eine Scheidung oder einen Jobverlust. Eine Erschöpfungsdepression hingegen – offiziell gibt es den Begriff nicht mehr, ich verwende ihn aber gern – entsteht langsam und häufig als Folge eines Burnout-Prozesses. Die Betroffenen akzeptieren nicht, dass sie sehr viel Stress haben, arbeiten trotzdem weiter und brauchen für ihre Tätigkeiten länger als normalerweise. Das ist der sogenannte Präsentismus: Menschen arbeiten, obwohl sie krank sind. Irgendwann sind sie so erschöpft, dass sie ihren Alltag nicht mehr bestreiten können.

WAGEN EINS: Was genau löst Stress dabei im Körper aus?

Dr. Gernot Langs: Zuerst wird das Stresshormon Adrenalin ausgeschüttet, dann Kortisol. Beide können zu einer Erhöhung des Blutdruckes führen, sodass man sich unruhig fühlt, vielleicht auch Schwindel oder Übelkeit hat. Das Immunsystem kann sich verschlechtern, sodass man anfälliger für Infekte wird. Und die Erschöpfung nimmt zu, wodurch die Leistung abnimmt. Dadurch wird man unzufrieden. Bei schweren Depressionen kommt oft ein Gefühl der Gefühllosigkeit auf, obwohl der Begriff natürlich paradox ist: Man spürt eigentlich nichts mehr, weder Freude noch Trauer. In erster Linie liegt das an einer psychischen Erschöpfung.

Eine Frau mittleren Alters sitzt auf der Bettkante und hält die Hände über ihr Gesicht
Ein eindeutiges Symptom für Stress: Schaflose Nächte und dadurch Müdigkeit am Morgen
© Adobe Stock/Tatyana Gladskih

WAGEN EINS: An welchen Symptomen merkt man außerdem, dass man viel Stress hat?

Dr. Gernot Langs: Das kann sehr unterschiedlich sein. Es kann sein, dass man körperliche Symptome wie vermehrte Kopfschmerzen oder Tinnitus hat und schlechter schläft. Ein weiteres Symptom kann sein, dass man nicht mehr abschalten kann. Man kann dann nur an die Arbeit denken, grübelt vermehrt und hat auf vieles keine Lust mehr. Man macht etwa keinen Sport mehr, hat keine Lust mehr auf soziale Kontakte, auch nicht auf Sex, und wird zur Couch Potatoe. Das sind die ersten Anzeichen.

WAGEN EINS: Schlafstörungen hat ja jede:r mal in bestimmten Phasen, auch über Müdigkeit und Kopfschmerzen klagen manche Menschen ab und an. Ab wann ist es zu viel? Oder anders gefragt: Wann sollte man sich Sorgen machen?

Dr. Gernot Langs: Wenn man Dauer-Kopfschmerzen hat oder ein Tinnitus nicht weggeht. Und der beste Indikator sind oft Schlafstörungen. Wenn man Patienten mit Erschöpfungsdepressionen fragt, sagen sie meistens, dass ihr Schlaf schon seit längerer Zeit schlecht ist, sie das aber so hingenommen hätten. Manche schlafen über Wochen und Monate zu wenig, andere zu viel. Eine Veränderung in der Schlafdauer und Schlafqualität ist ein Hinweis darauf, dass etwas los ist. Ein weiteres Warnzeichen ist, dass man sich an den Wochenenden und im Urlaub nicht erholt – selbst ein Urlaub strengt dann an und man kommt völlig gerädert zurück. Ein anderer Punkt ist, dass man eigentlich gern arbeitet und nun keine Lust mehr hat, zur Arbeit zu gehen.

WAGEN EINS: Passiert das also schleichend?

Dr. Gernot Langs: Wenn man mit Patienten spricht und sie ihre Gesundheit retrospektiv betrachten, erkennen sie die Symptome. Das geht jedoch schleichend vor sich und man passt sich der Symptomatik an. Man geht am Wochenende zum Beispiel nicht mit Freundinnen oder Freunden weg und lässt den Sport ausfallen, weil man denkt, man müsse sich ausruhen.

WAGEN EINS: Was kann man tun, wenn man merkt, dass man erschöpft ist? Sollte man sich zwingen, trotzdem etwas zu unternehmen?

Dr. Gernot Langs: Es ist immer gut, aktiv zu bleiben. Aber irgendwann gibt es einen Zeitpunkt, an dem man es nicht mehr schafft. Wenn man sich das eingesteht, sollte man seinen Hausarzt aufsuchen.

WAGEN EINS: Und wenn die Arbeit einen belastet – sollte man sich dann einen neuen Job suchen?

Dr. Gernot Langs: In einer Depression sollte man nie solche Entscheidungen treffen, weder einen Arbeitsplatzwechsel noch Trennungen oder andere wichtige Dinge. Man darf nicht denken: „Jetzt setze ich alles auf null zurück und dann wird es besser“. Denn wenn man einen neuen Job anfängt, nimmt man sich selbst mit – man kann vor sich selbst nicht davonlaufen. Ein grundsätzlicher Aspekt ist zudem, dass man akzeptieren sollte, dass auf der Arbeit nicht alles Freude macht. Arbeit ist auch da, um Geld zu verdienen und seine Freizeit finanzieren zu können. Wenn man immer nur Spaß möchte, ist der Anspruch zu hoch, und dann kann man nur scheitern.

WAGEN EINS: Was raten Sie, wenn man unter einer zu hohen Arbeitsmenge leidet und die Aufgaben nicht schafft?

Dr. Gernot Langs: Man sollte Prioritäten setzen und überlegen, was man auf den nächsten Tag verschieben kann. Wenn man selbst nicht weiß, was aufschiebbar ist, sollte man zum Vorgesetzen gehen – am besten schon mit Lösungsvorschlägen, zum Beispiel Aufgaben abgeben, die einen besonders belasten.

WAGEN EINS: Warum leiden manche Menschen auf der Arbeit eher unter Stress als andere?

Dr. Gernot Langs: Es geht auch darum, wie man mit Problemen umgeht. Es gibt Dinge, die man nicht ändern kann – zum Beispiel kann man seinen Vorgesetzten nicht ändern. Das muss man akzeptieren. Und wer seine Arbeit generell nur widerwillig macht, ist weniger resilient, also widerstandsfähig, als jemand, dem seine Arbeit Freude macht. Ich war zum Beispiel eine Zeitlang in einer chirurgischen Abteilung und das hat mich sehr gestresst, weil ich immer Angst hatte, etwas zu übersehen. Als ich in der Psychiatrie meinen ersten Patienten behandelt habe, hat mir das nichts ausgemacht, weil ich mich in dem Bereich kompetent fühle.

WAGEN EINS: Was für Tipps haben Sie, um die eigene Resilienz zu stärken?

Dr. Gernot Langs: Ein gutes Sozialleben ist wichtig, Sport und gesunde Ernährung. Außerdem kann man in Kursen Achtsamkeit erlernen, zum Beispiel Meditation.